Meine Migräne

Sie beginnt ganz sachte, fast unmerklich. Ein kleines „Ping“ schräg hinter dem rechten Auge im Gehirn, nicht allzu weit vom Rand der seitlichen Stirn. Der Schmerz, den man kaum als solchen bezeichnen kann, liegt gerade eben über der Aufmerksamkeitsschwelle. Ich bemerke, dass sie wieder da ist. Und ich weiß, dass sie sich in den nächsten Stunden entwickeln wird, dass aus dem kleinen Licht einer Kerze ein gleißendes Flutlicht aus Schmerz in meinem Hirn werden wird. Manchmal, gerne am Wochenende, macht sie sich schon beim Aufwachen bemerkbar. Oft meldet sie sich aber auch nachmittags, wenn das Gefühl des baldigen Feierabends einsetzt. Ich blende sie aus, denke das gibt sich wieder und eigentlich kann es ja gar nicht sein. Die Erfahrung lehrt mich eines Besseren, und trotzdem hoffe ich, aber freiwillig hat sie noch nie abgelassen. Sie, das ist meine Migräne. Nach einigen Stunden lässt sie sich nicht mehr ignorieren. Wenn ich zuhause bin, putze ich dann gerne die Fenster: Eine einfache mechanische Tätigkeit lenkt ab. Im Büro muss ich den Tag irgendwie durchstehen und gehe früher nach Hause. Abends liege ich auf dem Sofa, blende das Licht ab, das in meinen Augen zusätzlich schmerzt und massiere mit zwei Fingern das Pochen in der seitlichen Stirn. Ich trinke einen Schnaps, was nicht wirklich hilft, aber durch den Alkoholdusel den Schmerz ein klein wenig erträglicher macht. Und dann gehe ich früh zu Bett, wenn die Müdigkeit kommt und ich der Meinung bin, auch einschlafen zu können. Der Schlaf ist unruhig, ich wache oft auf, aber während der Nacht wird die Spitze des Schmerzes gebrochen. Der zweite Tag eines Migräneanfalls ist nicht schmerzfrei, aber gerade noch erträglich. Ich kann arbeiten und das erledigen, was ansteht. Im Laufe des dritten Tages ebbt die Migräne ab und verschwindet. An diesem Tag kann ich es abkürzen, nach einer halben Stunde joggen geht es ebenfalls vorbei und ich muss nicht bis zum Nachmittag warten.

Offenbar habe ich die Migräne von meiner Mutter geerbt. Sie hatte schwer zu leiden, fast jede Woche, und irgendwann beichtete sie mir, sie wäre als junge Frau aus dem Fenster gesprungen, hätte sie nicht uns Kinder gehabt. Meine Geschwister und ich waren es gewohnt: „Sie hat wieder Migräne!“ warnten wir uns, gingen in Deckung und verkrümelten uns in unsere Zimmer. Erwischte sie uns, war sie unleidig. Warum war nicht aufgeräumt, wieso der Müll nicht geleert, mussten wir denn laut sein… Sie schluckte Cafergot, ergotaminhaltige Tabletten, die wenig halfen, die sie nicht nur beim Anfall, sondern auch aus Angst vor einem Anfall einnahm. Vermutlich geriet sie dadurch in einen Dauerkopfschmerz, aus dem sie in einer Klinik wieder herauszukommen versuchte. Das hielten meine Eltern aber vor uns Kindern geheim, da war sie nur zur Erholung auf einer Kur. Wir bekamen mit, dass sie ihre Zähne sanieren ließ, nach und nach wurden alle gezogen, ohne dass es die Migräne beeindruckt hätte. Ich erinnere mich, dass sie eine Brötchenkur machte. Wochenlang ernährte sie sich von alten Brötchen, die sie in Milch tunkte. Das half natürlich auch nicht. Sie hoffte auf das Ende ihres Berufslebens und die Rente, aber auch das änderte nichts. Erst im Alter von etwa Mitte siebzig ebbte ihre Migräne ab und verschwand. Und erst, als ich älter und selbst Migräniker wurde, konnte ich ihre Qual nachvollziehen.

Bei mir schlich sich die Migräne nach den ersten Jahren des Berufslebens ein, ich war schon verheiratet und wir hatten ein kleines Kind. Irgendwann registrierte ich, dass ich oft Kopfschmerzen hatte und fing an, mir Gedanken darüber zu machen. Eine Verbindung zur Migräne meiner Mutter zog ich allerdings nicht, für mich waren es Kopfschmerzen. Ich vermied es, Hungergefühl zu bekommen. Ich hörte, dass der Zuckerpegel eine Rolle spielen könnte und aß vor dem Zubettgehen Schokolade. Ich las, dass bei abendlicher Zuckeraufnahme der Pegel nachts zu stark absank und verzichtete auf Süßigkeiten. Ich spielte am Anfang eines Anfalls Squash. Ich ging während eines Anfalls in die Sauna. Ich joggte. Ich tunkte meine Unterarme in kaltes Wasser. Ich bestrich die Stirn mit Minzöl. Ich trank zwei Tassen Kaffee, mit und ohne Zucker. Ich trank Alkohol. Ich trank keinen Alkohol. Ich lernte Autogenes Training. Ich nahm Aspirin oder Paracetamol. Ich nahm Tabletten, die beides und zusätzlich Koffein beinhalteten. Nichts davon half und ich musste ungefähr alle zwei Wochen einen dreitägigen Anfall durchstehen. Irgendwann besuchte ich während eines Anfalls aus einem anderen Grund meinen Hausarzt. Er merkte, dass mit mir etwas nicht stimmte, tippte spontan auf Migräne und verschrieb mir mit den Worten „Das muss doch nicht sein“ Tabletten aus einer Mischung von Ergotermin und Paracetamol. Also hatte ich Migräne!? Erst jetzt ließ ich diese Erkenntnis zu, bis dahin hatte ich das Wort nicht einmal ausgesprochen, ich hatte halt oft Kopfschmerzen. Ergotamin dockt an bestimmte Rezeptoren entlang der Hirngefäße an und sorgt dafür, dass diese, die beim Anfall abnorm geweitet sind und dabei den Schmerz auslösen, sich wieder zusammenziehen. Das klappt allerdings nur gelegentlich und häufiger Gebrauch der Tabletten führt zu schweren Nebenwirkungen, da die Rezeptoren überall im Körper zu finden sind und nicht nur im Gehirn. Für mich waren sie besser als nichts, aber jedes Mal ein Glücksspiel. Manchmal halfen sie prompt, manchmal erst nach Stunden und manchmal gar nicht. Und dann, zu Anfang der 1990er Jahre, wurden die Triptane entwickelt! Ein Medikament namens Imigran, das den Wirkstoff Sumatriptan enthielt, kam auf den Markt. Wieder war ich wegen einer anderen Sache bei einem Arzt und erwähnte nebenbei die Migräne, und er verschrieb mir diese Neuheit. Sie wirkte um Klassen besser als das Ergotamin! Ich war glücklich, damit ließen sich die Anfälle halbwegs in Schach halten. Man sollte (und soll) sie nicht zu spät nehmen, sondern bei Beginn eines Anfalls. Das stimmt bei mir nicht. Nehme ich sie zu früh oder zu spät, wirken sie nicht oder kaum. Den Anfang der Migräne muss ich durchstehen, aber nach einigen Stunden endet die Einstellung des „stell dich nicht so an, es ist doch gar nichts“, die Nase fängt an zu laufen, Lichtempfindlichkeit setzt ein und der Schmerz lässt sich nicht mehr ignorieren – jetzt ist es Zeit, die Tablette zu schlucken. Es dauert etwa eine Stunde, in der die Migräne zunimmt, dann registriere ich, dass ein Plateau erreicht ist und danach ebbt der Schmerz ab. Nach einer weiteren Stunde ist er weg und lässt mich für den Rest des Tages, sagen wir etwas zerknittert, aber schmerzfrei zurück. Die Tage zwei und drei des Anfalls gibt es nicht mehr, da ist alles wieder gut.

Das Medikament Sumatriptan
Sumatriptan – meine Rettung. Eine halbe Tablette reicht mir. Ich liebe Chemie!

Ich sah endlich ein, dass ich an Migräne litt, denn Triptane helfen gegen Migräne – und nicht gegen andersartige Kopfschmerzen. Man kennt die Ursache der Migräne nicht. Sie ist zumindest teilweise erblich und wird oft durch einen Trigger ausgelöst. Der Trigger kann so ziemlich alles und bei jedem Menschen anders sein, was die Sache schwierig macht. Es kann Spannung oder Entspannung sein (bei mir letzteres), Alkohol, Süßigkeiten, Käse, Hunger, Wetterumschwung, bei Frauen auch die Regel. Oder eben: Einfach so. Du hattest seit zwei Wochen keine Migräne? Na dann… Im Gehirn befindet sich ein Botenstoff namens Serotonin. Bei Migräne entgleist der Serotoninspiegel, d.h. es ist plötzlich zu viel oder zu wenig davon da. In der Folge verengen sich die Hirnarterien und weiten sich anschließend abnorm. Die Weitung führt zu einer Entzündung der umliegenden Nerven und löst die Schmerzen aus. Triptane beeinflussen die Serotoninmenge und sorgen so wieder für normale Verhältnisse im Hirn. Mittlerweile gab es das Internet und ich fand damit einen Arzt, der sich auf Kopfschmerzen spezialisiert hatte. Es war das erste Mal, dass ich wegen der Migräne zum Arzt ging! Er untersuchte mich, diagnostizierte prompt Migräne und empfahl, Medikamente zur Vorbeugung eines Anfalls zu nehmen. Über Wochen und Monate probierten wir einzeln und in Kombination Medikamente aus, z.B. Natil (Wirkstoff Flunarizin), Topimarat (zu Beginn hatte ich Nebenwirkungen wie Kribbeln in den Armen) und Magnesium. Die meisten halfen nicht, aber dann: Der Betablocker Metropolol schlug an! Kaum nahm ich ihn ein, war die Migräne für Wochen weg, schlich sich dann aber wieder ein. Insgesamt wurden die Anfälle aber weniger und die Triptane halfen prompt und zuverlässig. Ich nahm und nehme sie immer noch, mittlerweile seit Jahrzehnten. Jeder Versuch, sie abzusetzen, ging daneben, die Migräne nahm sofort wieder zu und die Triptane wirkten weniger. Mein Arzt meint, Metropolol gehört zu den am besten erforschten Medikamenten, ich könne es problemlos bis zum Lebensende einnehmen. Mittlerweile, seitdem ich das 60. Lebensjahr hinter mir gelassen habe, nimmt die Migränehäufigkeit ab, und momentan kommt sie nur noch alle paar Monate. Die Dosierung der Betablocker habe ich reduziert, aber ganz absetzen – das funktionierte bislang nicht.

Meine Migräne - Anzahl der Kopfschmerztage
Brav führte ich ein Kopfschmerztagebuch, beginnend mit dem ersten Quartal 1996

Heute gibt es mehrere Triptane zur Auswahl, einige sind sogar rezeptfrei in der Apotheke zu erstehen. Es gibt seit einigen Jahren auch eine ganz neue Art von Medikamenten, die monoklonalen Antikörper, wozu ich aber nichts sagen kann.

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