Einberufung zum Grundwehrdienst
Zu Anfang der siebziger Jahre herrschte in Deutschland die Wehrpflicht für Männer mit einer Dauer von 18 Monaten, die kurz vor meiner Einberufung auf 15 Monate gesenkt wurde. Dafür wurde der Haarerlass gekippt: Eine Zeit lang war eine Frisur mit langen Haaren erlaubt, aber es musste ein Haarnetz getragen werden (man hätte ja mit den Haaren irgendwo hängenbleiben können).
Kaum war ich achtzehn Jahre alt geworden, da lag auch schon der behördliche Bescheid zur Musterung im Briefkasten. Ich hatte mich zu einem bestimmten Termin im Kreiswehrersatzamt (komischer Name, was soll da wen ersetzen?) an der Sophienterasse in Hamburg einzufinden, was immerhin einen schulfreien Tag mit sich brachte. Nahe der Alster wartete ein grauer und düsterer Gebäudekomplex aus der Nazizeit auf mich. Meine Erinnerung daran ist nur schwach, zuerst hieß es mit anderen zu musternden Schülern warten, dann ausziehen bis auf die Unterhose, vorbeidefilieren an einer Waage, einem Größenmessgerät und schließlich einem Arzt, vor dem auch kurz die Hose zu lüften war. Es folgten Intelligenztests, wobei Zahlenreihen vervollständigt und Würfel im Kopf gefaltet werden mussten, ein Aufsatz war zu schreiben und zuletzt durften Wünsche bezüglich des zu erwartenden Einsatzes als Soldat genannt werden. Ich kreuzte „Fernmelder“ an, was mir von allen Möglichkeiten noch am ehesten mit meinen Neigungen zu Wissenschaft und Technik in Übereinstimmung zu sein schien. Und dann hoffte ich, vielleicht untauglich zu sein, das wäre der eleganteste Ausweg. Aber wie erwartet wurde ich für tauglich befunden. Lange Zeit geschah nichts, aber rechtzeitig vor dem Abitur kam der entscheidende Brief: Der Einberufungsbescheid, die Einberufung zum Grundwehrdienst. Am 2. Januar hätte ich mich morgens um sechs Uhr in einer Turnhalle in der Nähe des Bahnhofs Holstenstraße einzufinden, von wo aus mein Grundwehrdienst als Jäger in einer Kaserne in Flensburg anzutreten sei. So früh? Das fing ja gut an. Und was war ein Jäger? Und warum kam ich nicht wie gewünscht zu den Fernmeldern? Ersteres würde sich noch zeigen, letzteres erfuhr ich nie.
Eigentlich endete das Schuljahr am 31. Januar (es war in der Übergangszeit, in der der Schuljahresbeginn von Ostern in den August verlegt wurde), aber praktisch waren alle Abiturprüfungen vor Weihnachten abgelegt. Unter Nennung einiger Paragrafen wurde darauf hingewiesen, dass unter diesen Umständen auch ein vorzeitiger Dienstantritt statthaft sei und jegliche Unterlassung als Fahnenflucht angesehen werden würde.
Natürlich gab es in der Schule unter uns Schülern und zuhause in der Familie lange Diskussionen, ob man – konkret auch ich – den Wehrdienst verweigern sollte. Täglich hatten wir in den Medien die Berichte vom Vietnamkrieg vor Augen, wo wehrpflichtige Amerikaner nach kurzer Ausbildung direkt im Krieg eingesetzt wurden. Das war zwar hier in Deutschland nicht unsere Angelegenheit, aber man sah, wohin der militärische Weg führen konnte. Und durfte man angesichts der deutschen Geschichte überhaupt Soldat werden? Ein Bekannter, der Berufssoldat werden wollte, war dafür: „Was glaubst du passiert, wenn die Russen einmarschieren? Die ersten Opfer werden die sein, die nicht mit einem Gewehr umgehen können! Da fragt keiner, ob du Pazifist bist.“ Ich entschied mich für den Wehrdienst, die Weltlage war nun einmal so, wie sie war, und der West-Ost-Konflikt war real. Die Verweigerung des Wehrdienstes war erlaubt und hatte einen um sechs Monate verlängerten Ersatzdienst zur Folge. Allerdings musste eine Gewissensprüfung abgelegt werden, bei der vor einem Komitee überzeugend nachzuweisen war, dass man aus moralischen Gründen kein Soldat werden könne. Angeblich wurden Fragen dieser Art gestellt: Sie gehen mit ihrer Freundin durch den Wald, plötzlich springt ein Angreifer hinter einem Baum hervor, haut Sie um und macht sich daran, Ihre Freundin vergewaltigen. Zufällig haben Sie ein Gewehr dabei, was tun Sie?
Ich ging zum Frisör und ließ mir die Haare kürzen.